Lang habe ich den heutigen Tag erwartet. Dass es auch in einer langen Ehe noch Unausgesprochenes gibt, hat Eva heute erfahren. Am Zielort angekommen, eröffnete ich ihr, dass ich schon sehr lange davon geträumt habe, irgendwann mal dort zu stehen, wo ich heute sogar sitzen darf.
Bis hierhin war es aber eine laaange Anreise.
Aus dem Bett trieben uns heute morgen drei Dinge. Erstens, die zunehmende Wärme, zweitens das immer geschäftigere Treiben um uns herum und drittens unsere Rücken. Das Frühstück bereiteten wir draußen an unserer „Cuisine Campeur“. Danach nutzen wir noch einmal die Duschen, bunkerten Frischwasser, entleerten Toilettenkassette und Grauwasser und nutzen noch ein bisschen den halbwegs brauchbaren Internetzugang um unseren Blog zu füllen, ihr sollt ja schließlich etwas zu lesen haben. Genug Verzug haben wir inzwischen 😉
Kurz vor 11.00 Uhr, die interessierte Leser:in sei daran erinnert, dass wir gestern eine Stunde eingebüst haben, für uns also erst 10.00 Uhr ist, verließen wir unseren Platz, tauschten im nahegelegenen Supermarkt Ware gegen Geld und führten sicherheitshalber unserem Fahrzeug noch ein paar Gallonen Diesel zu. Dort, wo wir heute hinwollen, oder besser gesagt, wo ich hinwill, gibt es nichts, rein gar nichts, außer einer hoffentlich beeindruckenden Aussicht.
Wirklich weit ist es heute nicht, das Navi im Auto zeigt 84 Meilen. Ich bin etwas erstaunt, dass das Navi den Ort überhaupt als gültiges Ziel anbietet. Ich hatte sicherheitshalber vor der Reise noch eine Karte aus Papier gekauft, um im Outback ohne Hilfe aus dem Äther noch ungefähr zu wissen, wo wir sind. Aus der überschaubaren Anzahl der Karten wählte ich jene, in welcher das heutige Ziel überhaupt eingetragen war. Es war die einzige.
84 Meilen also, aber: 3 Stunden! Damit ist klar, dass die Straßen, so diese überhaupt noch als solche zu bezeichnen sind, „very rough“ sein würden.
Erst endet der Asphalt, dann weicht der Schotter dem Sand. Unsere Fahrspur ist nicht nur hinter uns auf der Piste zu sehen, sondern auch in der Luft hinter uns. Selbst die wenigen Rinder auf den kargen Flächen rechts und links neben uns, ziehen bei ihren eher beschaulichen Bewegungen eine Sandfahne hinter sich her. Glücklicherweise halten sich die Tiefsandpassagen in engen Grenzen. Dort wühlt sich der längst zugeschaltete Allradantrieb durch, unterstützt durch viel Schwung. Keinesfalls will ich steckenbleiben! Da das heutige Ziel eher mein Gartenzwerg als jener von Eva ist, würde ich gern um die anklagenden Blicke drumherumkommen. Das gelingt auch.
Langsam kommen die Felsen näher. Der Höhenmesser zeigt etwa 1.500 Meter. Ich rechne kurz nach: 1.500 minus 1.000 = 500. Reichen 500 Meter Höhendifferenz für den langen Weg bis in den Golf von Kalifornien? Die geografisch gut ausgebildete Leser:in hat jetzt vielleicht ein Vorstellung davon, was uns heute am Ziel der Reise erwarten soll: Die 500 Meter Höhenunterschied müssen dem Colorado River reichen bis zur Mündung in den Pazifik. Die 1000 Meter sind die Höhe der Schlucht, in die wir blicken wollen. Der Blick hinunter zum Fluss wird an den Rändern des Grand Canyon selten ermöglicht, zu gewaltig und breit ist die Schlucht. Diese Ausblicke sind sehr beeindruckend, aber ich suche schon sehr lange nach einer Aussicht, die ich von einigen Fotos kenne. Schon 1999 und 2001 war ich auf der Suche danach, ohne Erfolg. Das war damals noch das Zeitalter des Präinternets, Informationen wurde noch in Papier übermittelt. Ich kaufte damals so ziemlich jede Publikation um hinter das Geheimnis jener Aussicht zu kommen – ohne Erfolg. Wir haben auf unseren damaligen Reisen ganz viele tolle Ort entdecken dürfen, keinen möchte ich missen, aber Toroweap Overlook erreichten wir nicht. Später wusste ich dann genau, wo ich hinmüsste, allein die Möglichkeit bestand nicht mehr. Im Hochsommer, unserer feriengebundenen Hauptreisezeit fährt kein normaler Mensch hierher, erst recht nicht wir, die über die Jahre immer weiter in nördliche Breitengrade vordrangen und uns dort sehr wohl fühlen. Die Zeit des Zeltens ist für uns auch vorbei und ein passendes Auto, zum Schlafen und Wohnen, geländegängig nach dazu, war hier nicht zu finden. Bis voriges Jahr. Jetzt sind wir hier.
Inzwischen ist der Nacken steif, vom angestrengten Lenkrad halten. Alles, wirklich alles im Fahrzeug wird heute vibrationsverdichtet. Wir sind gut durchgeschüttelt. Der mit einer extra Sicherung für solche Pisten versehene Kühlschrank springt auf und entlädt seinen Inhalt auf den Fußboden. Glücklicherweise breiteten sich vorher auf diesem schon Geschirr- und Handtücher aus, denen es an den ihnen jeweils zugewiesenen Positionen auch nicht mehr gefiel. Oder aber es war ihre pflichtbewusste Weitsicht, um dem Kühlschrankinhalt maximale Polsterung bei seinem Ausflug zu ermöglichen.
Vor uns liegen jetzt noch 14 Meilen. Das Navi schlägt dazu eineinhalb Stunden vor. Bedenkliche Aussichten. Wir erreichen den Eingang zum Nationalpark. Ein Eingang ist es nicht wirklich, nur ein Schild, welches die Grenze markiert. Wir werden auf diesem darauf aufmerksam gemacht, dass ab hier ein Permit notwendig ist und dieses sichtbar im Fahrzeug auszulegen ist. Das Permit haben wir natürlich, dafür habe ich mich schon vor einem halben Jahr beworben. Ich habe sogar zwei, für zwei unterschiedliche Termine für unsere Reisezeit hier, man weiß ja nie. Diese beiden Permits habe ich noch zu Hause ausgedruckt, damit ich sie hier weisungsgemäß auf das Armaturenbrett legen kann. Selten war ich so gut vorbereitet, normalerweise ist dass Evas Kompetenz.
Immer wieder fragt mich Eva, wie weit es noch sei und wie die Wegverhältnisse sein werden. Ich weiß es nicht, antworte ich wahrheitsgemäß. Ich war noch nicht hier. Informationen sind auch recht wenige zu finden. Viele Publikationen im World Wide Web schreiben von einander ab, wahrscheinlich ohne je da gewesen zu sein.
Die Piste wird ausgesetzter, steiniger. Plötzlich, nach einer leichten Kurve, liegt vor uns ein Haufen Felsen, der vorgibt ein Weg zu sein. Das sieht beeindruckend aus und eignet sich prima, um mal ein Video darüber zu drehen. Das übernimmt Eva, ich lege inzwischen mal die Untersetzung ein. Jetzt haben wir viiiiele kleine Vorwärtsgänge. Ich unternehme den ersten Versuch und scheitere kläglich. Alle Räder drehen auf dem Fels durch. Im zweiten Versuch hängen zwei Räder diagonal in der Luft, auch nicht der Weisheit letzter Schluss.
Eva hat inzwischen das Handy weggesteckt und übernimmt die externe Mikronavigation. Plötzlich geht es, für mich als Fahrer sogar ziemlich einfach. Gefühlt schleiche ich mit dem Auto Eva hinterher, die den Weg erkundet. Ganz so ist es nicht, aber immer wieder muss Eva raus und mich durch die ausgesetzten Stellen dirigieren. Am Ende des Tages wird sie sagen: „Heute bin ich mehr gelaufen als du!“
Gefühlte Stunden später, das Navi behielt mit seiner Prognose Recht, erreichen wir den Tuweep Campground. Ein Pärchen ist schon da, unter den verbliebenen 8 Sites können wir frei wählen. Alle sind traumhaft gelegen. Es ist egal.
Wir verweilen nur kurz und nehmen die letzten 1.4 Meilen bis zum Toroweap Overlook unter die Räder. Wir haben schon einiges gemacht, aber das sind die ausgesetztesten 2 Kilometer, die wir je auf vier Rädern zurückgelegt haben. Der Ausblick am Ziel lohnt sich. Nur die letzte Schwelle nehmen wir zu Fuss, wir haben keine Ahnung, wie wir dies auf Rädern tun sollten und in Anbetracht der Abgeschiedenheit hier machen wir keine Experimente.
Vorerst will ich gewissermaßen nur ein Scouting vor Ort vornehmen, um später am Tag zu wissen, wo ich hinwill. Gar nicht so einfach: Eva lässt mich nicht. Ihr sind die 1000 Meter senkrecht nach unten irgendwie unheimlich. Also setzen wir uns mit etwas Abstand zum Rand und gucken in die Gegend.
Mich übermannen dabei meine Gefühle und ich verdrücke ein paar Tränen hinter der Sonnenbrille. Eva staunt darüber. Hiermit revidiere ich den Titel dieses Beitrags:
Nach diesem sentimentalen Aderlass gehen wir zurück zum Auto, eröffnen unsere Outdoor-Küche und kochen Kaffee. Was für ein Privileg, in dieser Umgebung mit einem frisch gebrühtem Kaffee zu sitzen und nichts zu tun, außer zu glotzen. Wir glotzen solange hier rum, das zumindest ich fast verpasse, pünktlich zur Dämmerung wieder an den Rand des Canyons zu kommen. Dafür sorgt aber Eva. Es wäre ja auch irgendwie albern, wenn wir dies heute auf uns genommen hätten und dann die schönste Stunde des Tages verpassen. Tun wir aber nicht. Wir sind ganz allein und haben den ganzen Grand Canyon für uns.
Ich warte auf die von der Abendsonne gefärbten Felsen, die sich im Wasser des Colorado River spiegeln sollen. Nur hier ist es möglich, bis in das Wasser des Flusses zu blicken. Mein Warten wird belohnt. Ich habe gesehen, was ich sehen wollte.
Etwas vor dem Untergehen der Sonne machen wir uns auf den Rückweg. Diese Strecke sollte man nicht in Dunkelheit zurücklegen. Entsprechende Anweisungen sehen auch vor, dass die Campsite vor Einbruch der Dunkelheit erreicht werden muss. Das schaffen wir. Der Rückweg ist einfacher als der Hinweg, wissen wir doch, dass unser Auto es schafft. Nur noch einmal kurz vor unserer Camping Site muss Eva mich dirigieren. Das tut sie inzwischen so routiniert, dass ich fragen muss, ob sie das noch im Millimeterbereich tut oder ob es schon Mikrometer sind.
Wir versuchen noch, uns hinreichend gerade hinzustellen, holen die Stühle raus und genehmigen uns zum gelungenen Ausflug einen amerikanischen Cider. Geht so, für amerikanische Verhältnisse. Das Ambiente aber reißt es definitiv raus. Auch Eva meint, dass sie es jetzt einfach „g**l“ findet, hier zu stehen. Sie hätte jetzt auch keine Magenschmerzen mehr. Ich bekomme ein bisschen schlechtes Gewissen und begebe mich mal in, besser: an die Küche. Lagerfeuer jeglicher Art ist hier verboten, also muss das Induktionsfeld genügen. Tut es auch, funktioniert zu Hause ja auch so.
Inzwischen steht der Mond fast hälftig am Himmel, Eva entdeckt Kassiopeia, ich Pegasus. Die Milchstraße ist auch zu sehen. Wir nehmen das iPad heraus und starten „Stellarium“. Hat man ein Pad mit Mobilfunk, hat dieses auch GPS. Wir brauchen das Teil nur in den Himmel an die gewünschte Stelle halten und bekommen jeden Pubs am Himmel erklärt. Ich hole den Fotoapparat nochmal raus und setze unser Auto im Mondlicht in Szene. Auf den schnell zur Kontrolle angeschauten Fotos können wir den Andromedanebel sehen, unsere Nachbargalaxie, mit der wir, nach neuesten Erkenntnissen nun doch nicht kollidieren werden. Eine Sorge weniger. So löschen wir über dem Canyon das Licht. Gute Nacht.