Schweißgebadet wache ich im Flugzeug auf. Das letzte, woran ich mich erinnern kann, ist der Anblick Grönlands 10.000 Meter unter uns, gleißend weiß, inmitten einer blauen Wüste. Das ist immer wieder beeindruckend zu sehen. Eva sagte nicht zur ersten Mal, dass wir da unbedingt mal hinmüssen.
Der Grund, weshalb ich aber aufwache, ist ein anderer: Ich war im Traum auf der Suche nach Eis, Eis um meine Cola zu kühlen – und scheiterte dabei fast an den amerikanischen Gegebenheiten. Irgendwie beginne ich gerade alte Urlaubsepisoden zu verarbeiten. Obwohl die einschlägige Reisefachliteratur wenig darüber schreibt, kenne ich die Lösung für Eis schon lange: ein kantiges Ungetüm draußen vor dem Zimmer im Gang, aus Stahlblech, ein Tresor, abgegriffen von Tausenden vor mir, die das gleiche Anliegen wie ich hatten, die Kühlung für ihre Cola oder Vergleichbares suchten, vielleicht auch nur Eis für ihren lauwarmen Whiskey; wohlgemerkt Whiskey mit „e“, da muss man auch im Traum korrekt sein, der Whisky ohne „e“ war dem Sommer in Schottland vorbehalten. In der Mitte des Ungetüms aus Stahl klafft ein großes Loch mit der Aufschrift „Raise door and place your container on the center of dispensing area, close door and push the button!“. Mist, da habe ich wieder meinen Container vergessen, will ich doch auch nur einen einzigen Eiswürfel. Kurzerhand platziere ich mein Glas direkt in der „dispensing area“, schließe die Tür und drücke den Knopf – es passiert nichts. Ein zweiter beherzter Druck auf den Button ändert daran nichts. Missmutig gebe ich auf, öffne die Tür in Magenhöhe, naja, bei mir ist es dann nicht der Magen, sondern eine Region ein ganzes Stück tiefer, entnehme das Glas mit meiner immer noch zu warmen Cola und gehe unverrichteter Dinge wieder Richtung Hotelzimmer. Plötzlich rumort es hinter mir. In den tief schlafenden Koloss aus Stahl kommt Bewegung. Schnell kehre ich zurück und platziere mein Glas unter immer lauter werdenden Geräuschen wieder hinter der Tür inmitten des großen Kastens. Nicht eine Sekunde zu früh, ergießt sich doch jetzt eine Lawine aus Eis über mein Glas. Eine Menge, wo jeder grönländische Gletscher unter mir blass wird, eine Menge Eis, wie sie der Perito-Moreno-Gletscher auch nicht jeden Tag beim Kalben abstößt. Mein Glas erstickt förmlich unter den Brocken, die sich jetzt aus dem Automaten ergießen. Plötzlich ist wieder Ruhe. Das Gerät verstummt. Ich befreie mein Glas unter dem Eisberg und entdecke genau ein Stück, welches den Weg bis ins Glas gefunden hatte. Warum so kompliziert? Ich wache auf.
Irgendwie habe ich im Traum die Wetterprognosen für die nächsten Tage, das Grönlandeis unter uns und alte Erlebnisse, aus den 1990er und frühen 2000ern miteinander verwoben.
Fangen wir aber ganz am Anfang an. Gestern hatten wir es doch tatsächlich noch vor Mitternacht geschafft, alles einzupacken und mehr oder weniger abflugbereit zu sein. 7.00 Uhr heute morgen sollte das Taxi kommen. Und, um es vorwegzunehmen, es war pünktlich und blieb damit ein Sonderfall für den heutigen für uns sehr langen Tag.
Unser Provinzflughafen war noch in Tiefschlaf. Das wird jeden Morgen hier so sein, wird aber heute noch von dem Umstand verstärkt, dass gestern gestreikt wurde – Glück gehabt, hätte uns fast getroffen. Irgendwie scheint der Streik auch nach hinten losgegangen zu sein. Man munkelt von Entlassungen und Leistungserbringung durch Subunternehmen. Jedenfalls wird heute Morgen zum Feiertag der Regelbetrieb wieder aufgenommen. Unser Flugzeug kommt aber nicht, in München herrscht Nebel. So langsam sehen wir unseren Flug über den Atlantik ohne uns starten…
…am Ende starten wir in Dresden just in der Minute, in welcher das Boarding in München beginnen sollte. Eva macht ihrem Unmut Luft, ich verkneife mir das. Unser Sitznachbar im Flugzeug ist noch knapper dran, ist doch sein Flugzeug nach Bangalore schon fast in der Luft. Am Ende werden wir unseren Flug in München mit viel Rennen, einer Passkontrolle im Vorbeigehen und einer Express-Security-Abfertigung noch bekommen. Das Flugzeug wartet sogar noch auf weitere Fluggäste von anderen Anschlussflügen. Das muss doch jetzt wirklich nicht sein, WIR sind doch jetzt da 😉
In Los Angeles landen wir zwar mit Verspätung, aber eine Viertelstunde konnte der Pilot auf dem 9625 Kilometer langem Weg über Bremen, Stavanger, Island, Grönland, die Hudson Bay, Salt Lake City und Las Vegas wieder gutmachen. Obwohl wir bei der Immigration einen recht muffligen Officer abbekommen, sind wir nach 45 Minuten mit unserem Gepäck aus dem Flughafen raus.
Jetzt brauchen wir nur noch ein Taxi. Taxi? Hier am Flughafen nicht zu finden. Mit dem Smartphone online zu kommen, dauert eine Weile, muss doch in den Staaten so einiges am Telefon umkonfiguriert werden. Einiges davon passiert automatisch vom Provider, wenn man online ist, online geht aber nicht, weil das Telefon nicht für das hiesige Mobilfunktnetz konfiguriert ist. Nahe ja, irgendwann haben wir gerafft, dass hier auf dem Flughafen groß umgebaut wird und uns ersteinmal ein Shuttlebus zum zentralen Taxistand bringen wird. Ab dann war es einfach, hat uns aber fast eine Stunde gekostet.
Im Hotel werden wir schon erwartet, bekommen ein schönes Zimmer, nicht nur für nordamerikanische Verhältnisse. Wir sind sehr nahe der Küste, auch hier herrscht Nebel – Seenebel. Von den uns angedrohten 30°C merken wir hier nichts. Da fehlen bestimmt 10°, nicht schlimm, für einen Sprung in den Pazifik ist es sowieso schon zu spät. Eva sucht uns noch ein Restaurant in der Nähe. Es wird ein Italiener. Wenig später fallen wir ins Bett, inzwischen ist es halb 10. Wir haben ganz gut durchgehalten und sind vielleicht nicht mitten in der Nacht wieder munter.
Im Zimmer, genau gegenüber dem Bett steht übrigens ein Eisbehälter – jener Container, der hinter die Tür im Koloss auf dem Gang gestellt gehört, bevor ich den Button dort drücken soll, woraufhin ersteinmal nichts geschehen würde, später aber, unter Donnern und Grollen eine viel zu große Menge Eiswürfel sich über den Behälter ergösse. Manche Dinge ändern sich auch nach mehr als 20 Jahren nicht.