Hast Du einen Tag in Marokko,
verbringe ihn in Marrakesch.
Hast Du nur eine Stunde,
verbringe sie auf dem Djemaa el-Fna.
Die aufmerksame LeserIn merkt es – ich komme immer wieder zu diesem Platz – wie seit mehreren Jahrzehnten schon Hippies, Künstler und Jetsetter. Am Anfang der 1990er Jahre war der Ruf aber so schlecht geworden, dass die Fremden ausblieben. Die Händler waren zu aufdringlich, galten als die Lästigsten in Marokko. König Mohammed VI. erließ daraufhin Vorschriften, wonach fortan nur noch staatlich lizenzierte Führer Fremde durch die Medina begleiten durften, nicht mehr die vielen selbsternannten und am Ende stets enorm gebührenpflichtigen „Freunde“ und „Begleiter“. Den vielen lästigen Pseudo-Guides ebenso wie den Basarkrämern war von einem Tag auf den anderen nicht einmal mehr gestattet Touristen anzusprechen. Wer gegen die von einer Heerschar Zivilpolizisten durchgesetzten Vorschriften verstieß, kam für einen Tag und eine Nacht ins Gefängnis und musste eine Geldstrafe in Höhe eines Handwerker-Monatslohns entrichten. Wer ein zweites Mal erwischt wurde, hatte einen Jahreslohn zu zahlen und landete dessen ungeachtet zusätzlich für zwei Monate im Gefängnis. Die rigorosen Vorschriften und ihre harte Durchsetzung zeigten die erhofft schnelle und gründliche Wirkung. Seit den Zweitausendern kamen dann auch mehr Touristen – auch wir.
Hier sind wir also, wir alle: in einer Traumkarawane.
Karawane und doch Traum – Traum und doch Karawane.
Wir kennen diese Träume.
Darin liegt die Hoffnung.
(Sheikh Baha-du-Din)
Viele Hollywood-Stars kamen zu Besuch. Genau wie wir schon häufig, blickten sie über den sechs Fußballfelder großen Djemaa el-Fna. Schauspieler auf Gastspiel in einer fremden Welt, Schauspieler, die ihren Kollegen aus einer anderen Zeit auf dem Platz der Gaukler mitten in Marrakesch die Referenz erweisen wollten – und sich dann doch lieber erst vorsichtig herantasteten. Sie waren hergekommen, um den Leuten aus dem Damals zuzuschauen, um Geschichten zu hören aus der Zeit, als es noch keine bewegten Bilder gab und man sich noch nicht in geschlossenen Räumen vor Leinwände oder Bildschirme setzte. Man hockte sich aufs Pflaster und hing an den Lippen der Märchenerzähler, lauschte diesen Menschen und beobachtete jede ihrer Regungen. Allein mit ihren Stimmen, ihren Tänzen, ihren Gesten und dem Rollen ihrer Augen erfüllen sie noch heute das, was mit weit höherem Aufwand und größerem Personaleinsatz bei uns Kino, Fernsehen und Streaming übernommen haben: Bilder laufen zu lassen. Die Gaukler von heute besuchten jene von gestern. Wir sind heute wieder froh, dass es dieses Gestern noch gibt. Die Gnaouas, die Tänzer, drehen sich und wirbeln herum wie Derwische. Ihnen wird nachgesagt, sie seien mit magischen Kräften beschenkt, als Gegenleistung für ein Bündnis mit der Geisterwelt.
Jetzt im Herbst machen die Akteure meist Mitternacht Feierabend, weil es dann auch hier kühler wird, der Zauber aber Wärme braucht. Heute aber sind um 22.30 Uhr immer noch 30°C – fast wie im Sommer. Da dauern die Vorstellungen der Feuerschlucker, Tänzer, Musiker und Akrobaten, der Dompteure, Kartenleger, Wahrsager, Schlangenbeschwörer und Märchenerzähler bis morgens früh um halb fünf, weil es vorher sowieso zu heiß zum Schlafengehen ist.
«Sag mir, Baba, warum sprichst du so wenig und lauschst so viel?»,
fragte der Sohn seinen Vater.
«Weil ich zwei Ohren habe, aber nur einen Mund.»
(Tahir Shah: Der glücklichste Mensch der Welt)
Schon zu Beginn unserer Reise hatte ich den Eindruck, die Stadt hätte die Pandemie ganz gut weggesteckt. Verglichen mit anderen Orten, die wir die letzten Tage besuchten, war dieser Eindruck nicht falsch. Verglichen mit heute Abend aber drängt sich der Eindruck auf, bei unserer Ankunft war die Stadt noch tot, die Lunge der Stadt, der Djemaa, atmete da noch nicht richtig. Heute nimmt er tiefe Züge.
Es liegt an einem selbst, ob man sich dem Treiben auf dem Platz öffnen kann oder nicht – es liegt nicht an den Händlern und Strassenkünstlern. Besucher beklagen oft die Aufdringlichkeit der Händler und das Fehlen der gewohnten europäischen Ordnung. Aber es ist eben nicht Europa, es ist Afrika, es ist Orient. Es ist eine Mischung aus 1001 Nacht und Dritter Welt. Wer die gewohnte Ordnung braucht, ist hier fehl am Platz. Als abendländliche Touristen verfolgten wir das Geschehen bisher lieber aus der Ferne, geht es bei den Gauklern und deren Mitstreitern doch hauptsächlich um Geld. Dieses wird durchaus aggressiv reklamiert. Wer als Tourist die nötige Toleranz, die man als Europäer im Orient braucht, nicht mitbringt, sieht auf dem Djemaa el-Fna keine Gaukler von gestern mehr, diese Besucher sehen ausschließlich die Händler von heute. Die Gaukler verfolgen ihre Opfer mit einer mächtigen Schlange um den Hals oder sie lassen Affen auf die Schultern der Touristen springen. Heute ist es hier aber so voll, dass wir über den Platz streifen können, ohne dass wir mit einer „Bitte“ um einige Dirham vollständig eingenebelt werden. Eva und ich sind ein weiteres Mal ziemlich gebannt davon. Entweder ist man von einem Abend auf dem lärmigen und verräucherten Djemaa el-Fna begeistert oder man ist mehr entgeistert. Unsere beiden jungen Mitreisenden tragen Kopfhöhrer und entziehen sich der Wirkung des Platzes. Die Gaukler von gestern spielen nur für uns.