
Heute Abend haben wir noch einige hundert Kilometer gen Süden runterzureißen. Das Wetter ließ unseren Terminplan etwas aus dem Ruder geraten. Hinter uns die Sonne schlägt unser rollendes Heim immer längere Schatten auf den Asphalt. Es wird nicht mehr lange dauern bis der letzte Schatten, der längste, sich nicht mehr vom Schwarz des Highways trennen lassen wird. Weil wir gerade sonst nicht viel zu tun haben, denken wir über das heute und in den letzten Tagen Erlebte nach. Eva sagt: „Kanada, verrückt! Wir sind in Kanada!“ Mir geht es nicht anders, so antworte ich: „Ja, und das nicht zum ersten Mal.“ Die Ausfahrten rechts und links kommen uns inzwischen ziemlich bekannt vor. Vor 10 Jahren hatten wir hier viele Steine, vornehmlich an der Wild Pacific Coast, umgedreht. Damals noch verbunden mit vielen Wanderungen, was heute kniebedingt nicht mehr ganz so funktioniert.
Ich, meist etwas rationaler in meinen Gedanken, sinniere darüber, mit wie vielen Pferden unter der Haube unser Truckcamper mit uns hier unterwegs ist. Es sind 465, merken tun wir davon nicht viel, typisch amerikanisch zieht der Pickup unseren Wohnmobilaufsatz wie an einem Gummiband durchs Land. Nie habe ich das Gefühl, zu viel Leistung aus den 6,7 Liter Hubraum in 8 Zylindern abrufen zu können, reichen wird es jedoch immer, da bin ich mir sicher.
Was man aber sonst so mit sogar etwas weniger Leistung, nämlich etwa 420 PS, aber aus 16 Litern Hubraum, verteilt auf 9 Zylinder in Sternanordnung, machen kann, haben wir heute erlebt. Zugegeben, es waren zwei solcher Motoren, dafür aber sind wir geflogen!
Seitdem ich als Kind begonnen hatte, mir Kanada vorzustellen, war das immer verbunden mit Wasserflugzeugen. In meiner romantischen Vorstellung sah ich immer einen See mit einem einmotorigen Flugzeug, welches darauf landete oder startete. Ringsherum immer viel Wald. Meine erste Visite in Kanada manifestierte diese Vorstellung sogar noch. 1992 über Minnesota aus dem Vayageurs National Park, so etwas ähnlichem wie dem Spreewald, nur in groß, nach Ontario eingereist, war bei der Suche nach einem mittäglichem Rastplatz genau so ein See mit einem Wasserflugzeug darauf das erste, was ich damals von Kanada bewusst wahrnahm. Ein Klischee, welches aber tatsächlich bestätigt wurde.
So ganz losgelassen hat mich das über die Jahre nie, vielleicht auch deshalb, weil ich durch meinen Vater ein gewisses Interesse für Fluggeräte aufbringen kann. In Kanada wäre es tatsächlich sehr einfach eine Lodge für ein paar Tage in der Wildnis zu buchen und sich mit dem Flugzeug dort absetzen zu lassen. Der Flug wäre gar nicht das Problem, aber die Lodges. Mit einem vierstelligen Dollarbetrag müsste man meist gegen Mitternacht das Bett verlassen und dem nächsten Gast dieses überlassen😉.
Bei meinen Recherchen zu diesem Sommerurlaub stieß ich jedoch auf ein paar Fotos von einem Flugboot, die ikonische Grumman G-21 „Goose“, die vor dem zweiten Weltkrieg 345mal gebaut, offenbar hier an der Central Coast immer noch genutzt wird. Meine Recherchen ergaben, dass die letzten zwei Maschinen 2012 in Alaska außer Dienst gestellt wurden. Die Fotos, die ich aber fand, waren eindeutig jünger. Anhand der Beschriftung der Flugzeuge auf den beiden Fotos fand ich tatsächlich eine Webseite, die, dem Design und der Technik nach zu urteilen, noch von Tim Berners-Lee persönlich erstellt worden sein musste. Das hielt mich aber nicht davon ab, mal eine Mail dorthin zu schreiben. Laut Eigendarstellung hat die kleine Fluggesellschaft Wilderness Seaplanes zwei dieser Gänse im Einsatz, unterstützt von drei einmotorigen de Havilland DHC-2 „Beaver“, die jetzt auch nicht viel jünger sind. Mit diesen Maschinen werden mehrmals wöchentlich Holzfällerlager, Lodges und Treffpunkte der wenigen ständigen Bewohner der Central Coast angeflogen, die Post ausgeliefert und Waren zugestellt. Ich fragte also an, ob es möglich sei, da mal mitzufliegen. Nach einigen Tagen bekam ist tatsächlich eine Antwort von einer gewissen Paula, dass sie mir im Moment nicht weiterhelfen könne, da ihr Computersystem ausgefallen sei, sie sich aber bei mir melden würde, sobald alles wieder funktionieren würde. Etwa eine Woche später bekam ich wieder eine Nachricht, in der sie mir mitteilte, sie hätte mit ihrem Chef gesprochen, dass mein Wunsch durchaus erfüllt werden könnte. Ich solle ihr mal meinen Wunschtermin mitteilen – gesagt, getan. Gerade an meinem Wunschtermin würde kein Flug stattfinden, aber zwei Tage später. Ok, zwei Tage würden wir leicht auf Vancouver Island vertun können bis denn der 15. Juli angebrochen sein würde. Der Termin war somit klar, jetzt, so teilte ich ihr mit, wäre ich aber durchaus daran interessiert zu erfahren, was der Spaß denn kosten würde.
Ich schreibe es mal so: Ein Hubschrauberflug über den Grand Canyon ist teurer, eine Fährfahrt auf der Inside Passage auch. Und da der Flugtag ein halbes Jahr nach dem Termin des Zahltages liegen würde, hätten wir es sowie schon längst wieder verdrängt. Kurzer Hand rief ich von zu Hause aus bei Paula in Port Hardy an, bei ihr war es gerade Arbeitsbeginn, übermittelte die Kreditkartendaten, noch während wir telefonierten machte es „Bing“ in der Banking-App und wir waren damit etwas ärmer, aber einen Urlaubstermin reicher. Sogar eine Mail mit so etwas ähnlichem wie einer Rechnung, es war eher der Flugplan, bekam ich kurz danach. Demnach sollten wir am 15. Juli eine Stunde vor Abflug in Port Hardy auf dem Flughafen sein, also 8:15 Uhr. Ein gewisses Vertrauen in Gott und die Menschen und in wem oder was auch immer gehört allerdings dazu, sich auf so etwas einzulassen. Noch nie auf unseren zahlreichen Reisen wurden wir jemals enttäuscht bei solchen ungewöhnlichen „Buchungen“ – ich kann es vorwegnehmen – heute auch nicht.
Die letzten Tage war schon abzusehen, dass Paula sich auch um das passende Wetter gekümmert hatte. Bedenken hatte ich nur, weil sich just am Tag unseres Fluges dicke Wolken in Port Hardy einzustellen schienen. Da es absolut windstill war, hoffte ich, dass es Seenebel sei, der sich irgendwann verziehen würde. Überpünktlich waren wir am Airport. Genau eine Person trafen wir an, es war Paula. Ich begrüßte sie mit den Worten, dass wir vor ungefähr einem halben Jahr telefoniert hätten. Ich nahm stark an, dass sie sich daran nicht erinnern würde, aber, und das war das Wichtige, sie hatte eine handgeschriebene Liste mit 6 Zeilen und die Namen in den beiden obersten Zeilen kannte ich, die stehen auch in unseren Pässen. Sie machte ein Haken vor unsere Namen und damit war der CheckIn erledigt, keine Überprüfung unserer Pässe, nichts. Lediglich ein paar Kommentare zum Nebel folgten, mit der Bitte, Geduld aufzubringen und nicht zu weit weg zu gehen, denn es könnte dann irgendwann ziemlich schnell losgehen. Also warteten wir.

Am Ende wurde aus dem Starttermin 9:15 Uhr kurz vor Mittag. Der einzige „richtige“ Flug, eine Maschine aus Vancouver landete auch mit ziemlicher Verspätung, der Grund war der gleiche, nein sogar derselbe – Nebel. So beobachteten wir das Treiben auf dem Airport, dem es an fast nicht fehlte, um ein „richtiger“ Flughafen zu sein, nur der Maßstab war kleiner. Das Einzige, was es tatsächlich nicht gab, war jegliche Form von Security Checks. Alle Tätigkeiten, die an einem Flughafen anfallen, wurden in Personalunion von Paula erbracht: CheckIn, Einweisen der Flugzeuge auf dem Vorfeld, Geleiten der Passagiere auf demselben, bestimmt auch Kaffeekochen und Reinigung – allein das sahen wir nicht.
Zwischendurch kamen ein paar uniformierte Männer, die durchaus so lang waren wie ich, aber an der Schulter gefühlt doppelt so breit. Wären diese Männer in den Schweizer Alpen zum Lawinenschutz im Einsatz, hätten sie vier Beine, ein Rumfass um den Hals und würden in einem Kloster am Großen St. Bernard wohnen. Hier jedoch gehören diese Vertrauen einflößenden Männer zur Canadian Coast Guard, deren Flugzeug hier trotz des Nebels gelandet war. Amüsiert war ich darüber, dass sie das Flugzeug über die Heckrampe betraten, mit ihrer Ausrüstung über das Flugfeld stiefelten, vorher jedoch geduldig vor einer Tür warteten, bis diese von Paula geöffnet wurde. 5 Meter daneben hätten sie einfach durchlaufen können.
Inzwischen gab es eine weitere Passagierin, die wohl die gleiche Intention wie wir hatte. Sie ist eine junge angehende Pilotin, auch eine Deutsche. Sie würde am Ende mit einer „Beaver“ mitfliegen, unsere „Goose“ war mit ihren 6 Plätzen ausgebucht. Weil sie aber viel Interesse an dem Flugboot zeigte, kam der Pilot, er hatte ja noch nichts zu tun, nahm die Interessierte mit auf das Vorfeld und zeigte ihr jedes Detail „seiner“ Gans. Auch zu uns kam Paula, und machte uns klar, wir könnten gern an der „Führung“ teilnehmen. Es würde dann auch bald losgehen. Beladen und betankt war das Flugboot inzwischen.
Dann ging es schnell, Paula kam noch einmal bei uns vorbei und bedeutete es ginge jetzt los, wir sollten schon mal zur Goose gehen. Der Pilot reichte uns unterwegs noch eine Rettungsweste. Klar, wir steigen ja in ein Boot, wenn auch ein fliegendes. Da legt man die Rettungsweste gleich an. Wir bestiegen die Gans über eine viel zu keine Tür im Heck, der letzte Sitzplatz dient umgeklappt auch als Stufe und suchten uns einen uns genehmen Platz. Viel Auswahl hatten wir nicht, außer dem Piloten haben, den Notsitz an der Einstiegsluke nicht mitgezählt, 6 weitere Personen Platz. Als letzter steigt Yves, unser Pilot ein. Gefühlt kenne ich den jungen Mann. Er sieht aus, als hätte ich ihn gerade in der Serie „Masters of the Air“ über die berühmte 100. Bomberpilotenstaffel der US Air Force im zweiten Weltkrieg gesehen. Die in der Serie im Mittelpunkt stehenden B17-Bomber waren aber noch nicht einmal gebaut, als unser Flugzeug heute schon längst am Himmel war. Krass, das Flugboot, mit dem wir in Kürze abheben würden, ist 95 Jahre alt! Eva sagt noch scherzhaft „Mein Handy muss ich wohl gar nicht in den Flugmodus schalten?“ Ich antworte ihr: „Nein, damit wirst du hier nichts stören können, außer vielleicht das Handy des Piloten, welches er für seine Playlist für seine Kopfhörer benutzt.“
Wir rollen los, das Dröhnen der beiden Kolbensternmotoren ist ohrenbetäubend, hört sich mit der Zeit aber weg. Wir rollen die Startbahn entlang um am Ende zu wenden und gegen den wenigen Wind zu starten. Die Richtung auf dem Rollfeld hält der Pilot mit einem Doppelhebel in der Konsole über ihm für die Steuerung des Anstellwinkels der Propeller der beiden Motoren und einer Kurbel neben dem Sitz mit dem er das Spornrad am Heck des Rumpfes drehen kann. Dann zieht er die Motoren an einem weiteren Doppelhebel hoch und kurze Zeit später sind wir in der Luft. Erstaunlich, dass so ein unförmig aussehendes Ding fliegen kann – und wir sitzen drinnen! Sekunden später durchstoßen wir die letzten Nebelschwaden, über uns ist blauer Himmel, unter uns ein Meer aus weißen Wolken. Wir wissen immer noch nicht, wo wir hinfliegen werden. Da das Telefon aber nicht im Flugmodus sein muss, können wir unsere Route live mitverfolgen. Wir fliegen nach Nordosten, über die Meerenge zwischen Vancouver Island und dem Festland direkt in die Coastal Mountains. Je näher wir dem Festland kommen, desto spärlicher werden die Wolken bis wir ganze freie Sicht haben. Diese Landschaft von oben zu sehen – wir fliegen keine 1000 Meter hoch – ist der Wahnsinn. Unter uns Wald, Inlets und Gletscherseen. Am Ende werden wir sagen, das war noch schöner, noch gewaltiger, als vor einem reichlichen halben Jahr der Grand Canyon unter uns.
Wir sind im Übrigen die einzigen Fluggäste, die von der Landschaft unter uns Notiz nehmen, für die vier anderen ist es das normalste der Welt, sie schlafen teilweise, sie scheinen nach Hause zu fliegen. Unsere Gans fliegt jetzt zwischen zwei Berghängen hindurch, vor uns liegt ein See. Nur kurz sehen wir eine Landebahn. Über dem See wendet der Pilot und steuert die Landebahn an. Der Touchdown ist sanft, Yves versteht sein Handwerk. Am Ende der Landebahn stehen zwei Holzbänke, darauf sitzen ein paar Menschen, vor Ihnen steht ein Stapel mit Kartons. Neben dem Stapel kommt das Flugzeug zum Stehen, Yves windet sich aus dem Seitenfenster im Cockpit und beginnt mit der Entladung. Die Passagiere steigen inzwischen aus. Neben seinem Primärjob als Pilot, ist er sein eigener Techniker und hier auch Paketbote. Er entlädt das Flugzeug, auch den langen Karton, mit dem ich mir den Platz geteilt habe. Neben dem schon existierenden Stapel entsteht so ein zweiter neben dem Flugzeug. Der erste verschwindet dann, immer kleiner werdend, in jedem Winkel des Flugzeugs. Eine Passagierin vermisst ihr Gepäck, jedoch ohne jegliches Anzeichen von Panik, und meint dann, das würde dann mit dem nächsten Flugzeug kommen. Dieses kommt auch, eine „Beaver“, kurz bevor wir wieder starten. Die „Bieber“ wird auch den Rest des Stapels mitnehmen, der bei uns nicht mehr hineinpasste. Als Fluggepäck steht für unseren Flug auch eine Hundetransportbox bereit. Diese passt im Ganzen niemals in den Rumpf. Sie wird in ihre zwei Teile zerlegt und diese einzeln irgendwo hineingestopft. Der Hund reist als zusätzlicher Passagier zwischen uns mit. Der macht das nicht zum ersten Mal, so ruhig wie er dabei ist.
Die Startvorbereitungen beginnen. Als alle im Flugzeug sind, beginnt Ives wieder seinen Vortrag zur Flugsicherheit. Gefühlt ist es der gleiche Text wie auf jedem anderen Flug auch, nur das Ballett dazu fehlt. Auch hier hört kaum jemand zu, nicht einmal Gespräche werden unterbrochen. Nur wir und der Hund lauschen dem Vortrag. Bevor wir auf die Startbahn einbiegen, müssen wir warten bis die „Beaver“ gelandet ist. Hier ist mehr los, als in Dresden auf dem Flughafen 😉 Unsere Reise geht weiter über die Wasserwelt unter uns. Wir landen an einer Lodge, dieses Mal auf dem Wasser, das ist spannend. Hier übernimmt Yves noch einen weiteren Job, jenen des Bootsmannes. Er wirft ein Seil aus dem Cockpit, windet sich wieder aus dem Fenster und verzurrt das Flugzeug am Anleger. Zwei Mitarbeiter der Lodge helfen ihm dabei, als würden sie ein Ruderboot verzurren. Aussteigen können wir dieses Mal nicht, der Aufenthalt ist nur kurz. Den Paketen nach zu urteilen, werden nur ein paar Angeln geliefert, schließlich sind wir an einer Fishing Lodge gelandet.
Die Motoren werden wieder gestartet. Wir verlassen die Bucht in entgegengesetzter Richtung. Der Start aus dem Wasser dauert länger. Kann das wirklich funktionieren? Die Insel vor uns kommt immer näher. Wir heben doch ab und sind sogleich wieder über den Bergen und dem Meer dazwischen. Nebel liegt immer noch über dem Meer, über Port Hardy ist er aber verschwunden. Nach zwei Stunden sind wir zurück.
Wir besuchen, nicht zum ersten Mal, noch ein hübsches kleines Café, welches hier wohl der soziale Treffpunkt aller ist, vom Polizisten, über den Feuerwehrmann bis zum Fischer. Wir, als Touristen erkannt, werden gefragt, ob wir über die Inside Passage gekommen wären oder auf diese wollten. Wir bejahen, sagen aber, dass dies schon ein paar Tage her wäre. „Welcher Tourist hält es hier so lang aus?“ ist die neuerliche Frage. „Wir. Wir sind zur Central Coast geflogen.“ Das Verweilen hat sich gelohnt. Das war Fliegen, wie wir es nur aus alten Filmen kennen, ohne Computerunterstüzung, nur mit Pedalen, Kurbeln und einem Steuerrad. Unvergesslich! Das macht man nur einmal im Leben, zumindest wir. Hier ist es das Normalste der Welt.
Es gibt Klischees, die sind keine
Wer jetzt noch immer nicht genug hat, findet hier noch zusammengeschnipselte 13 Minuten und 48 Sekunden des Flugs der Gans.