Für den heutigen Abend ist eigentlich Boondocking auf der anderen Seite des Lake Powell am Alstrom Point geplant. Ich kenne Bilder von dort und hatte schon lange fest vor, von dort, hoch über dem See, zu fotografieren. Wenn wir aber hinüber schauen, Luftlinie ist es nicht weit, sehen wir dicke Wolken und Regen. Das würde sich nicht lohnen, geschuldet auch der Tatsache, dass die Anreise dorthin wieder eine haarige 4×4-Strecke wäre. Die Vorstellung, diese dann nicht mit Sand unter den Rädern, sondern mit Schlamm zu absolvieren, lässt uns Abstand nehmen. Man kann nicht alles haben. Die Entscheidung fällt aber leicht, haben wir doch die letzten Tage schon viele tolle Orte erleben dürfen.

Was machen wir denn jetzt mit dem angefangenen Tag? Ein Blick zu Accuweather, unser hier bevorzugten Wetter-App, zeigt uns, dass sich die Wolkenbedeckung wirklich nur auf den Lake Powell beschränkt. Also bestimmen wir die Entfernung zum Grand Canyon North Rim und beschließen, diesem stattdessen einen Besuch abzustatten. Der erste Versuch vor ein paar Tagen scheiterte an der Nichtverfügbarkeit einer Camping Site auf dem recht kleinen Campground direkt am North Rim. Am 20 Meilen vor dem Rim gelegenen Campground Demotte gäbe es noch first come – first served Plätze, aber eigentlich sind wir dafür heute schon zu spät. Daher beschließen wir, auf dem ersten Campground im Zielgebiet, in Jacob Lake eine Camping Site in Beschlag zu nehmen und dann weiter zu fahren. Wenn es uns gelingt, näher am Rand noch etwas anderes zu finden, würden wir diese einfach nicht nutzen.

In Jacob Lake angekommen, haben wir recht viel Auswahl, nehmen eine Site „in Besitz“, erledigen die Formalitäten, indem wir ein dafür vorgesehenes Kuvert mit der Gebühr in bar befüllen, in den dafür vorgesehenen Kasten werfen und die Quittung an unserer gewählten Camping Site befestigen. Das ist heute noch so, wie wir es aus dem letzten Jahrtausend kennen, Digitalisierung hin oder her. Wenn es gut läuft, würden wir nicht wiederkommen.

Wir fahren weiter Richtung North Rim und erreichen 40 Meilen später den Demotte Campground direkt vor dem Nationalparkeingang. Auch dort scheint es freie Plätze zu geben. Als wir durch die Loops fahren, um uns ein Plätzchen auszusuchen, kommt der Campground Host hinter uns her und klärt uns darüber auf, dass wir nur eine Nacht bleiben könnten, weil morgen 11.00 Uhr „closed for the season“ ist. Kein Problem für uns, erinnert uns aber irgendwie an vorigen Herbst in Nova Scotia, wo uns das häufiger passierte. Wir machen das Spielchen mit dem Kuvert also noch einmal, wir haben ja heute Übung darin.

Dann müssen wir uns sputen, sehen wir doch, dass die Wolken, die uns wider erwarten bis hierher gefolgt sind, direkt am Canyonrand enden und das Licht dort wirklich außergewöhnlich ausschaut. Keine Minute zu zeitig erreichen wir den Balkon an der North Rim Lodge und teilen uns zum Fotografieren nach rechts und links auf. Eva belauscht dabei unabsichtlich eine 84 Jahre alte Amerikanerin, die offenbar von Ihrer Tochter den Wunsch erfüllt bekommt, einmal im Leben den Grand Canyon zu sehen. Sie meint, so etwas schönes wie heute hätte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen. Es ist wirklich eine ganz besondere Stimmung. Sogar ein Regenbogen erscheint über dem Canyon.

Ich werde auf der anderen Seite von einem amerikanischen Paar angesprochen, als sie auf meine Kamera schauen, während ich gerade Aufnahmen kontrolliere. Sie fragen mich, ob ich die Bilder auch veröffentliche und ob man diese Bilder kaufen kann. „Kann man“, sage ich und versuche das entsprechende Portal mit meinem Handy zu öffnen. Nach einer gefühlten Viertelstunde tröpfeln die notwendigen Daten durch den Äther und sie speichern sich die „Koordinaten“. Das letzte Sonnenlicht in den Wolken verpasse ich dadurch. Das ist keinesfalls schlimm, das nette Gespräch hier am Canyonrand entschädigt dafür mehr als genug. Inzwischen ist Eva auch wieder bei mir und wir antworten etwas peinlich auf die Frage, ob wir das erste Mal am Grand Canyon seien, wahrheitsgemäß mit „nein“. Den Umstand, dass wir sogar auf dieser Tour schon so einen exponierten Ort wie den Toroweap Overlook besucht haben, verschweigen wir.

Der Versuch, in der North Rim Lodge ein Abendessen zu bekommen scheitert, wie nicht anders zu erwarten. Im Imbiss um die Ecke bekommen wir ein Stück Pizza, das erspart uns heute Abend das Kochen. Wir fahren die 20 Meilen bis zu unserer Camp Site und sinnieren dabei über die alte Dame und müssen ein weiteres Mal feststellen, das wir schon sooo viele atemberaubende Orte gesehen haben. Reüssieren wir über den schönsten, beschränken uns nur auf diese Reise, dann steht der Abend heute nicht auf Platz 1, so schön er auch war. Nur ein paar Stunden zurückblickend, fällt uns der Antelope Canyon ein. Wir mussten dafür nicht 84 Jahre warten.

Danke dafür!

Jens

Er fotografiert und manchmal schreibt er auch.