Musterbeispiel der orientalischen Stadt – Weltkulturerbe – hohe Handwerkskunst.

Eva navigiert uns zielstrebig auf einen Parkplatz an der Stadtmauer der Medina, denn innerhalb der Altstadt sind Fahrzeuge nicht nur verboten, sondern einfach nicht möglich. Wie jetzt weiter? Unsere Unsicherheit wird bemerkt, noch ehe sie uns selbst bewusst wird. Schon hat uns ein selbsternannter Parkwächter gefunden, organisiert einen Kofferkarren und lässt uns im flotten Tempo durch das Gewirr der tausend Gassen an unser Ziel bringen. Diese Dienstleistung nehmen wir gern in Anspruch: Erstens ist es vermutlich das einzige Einkommen aller bei dieser Dienstleistung Beteiligten und zweitens ist die Orientierung in diesem Labyrinth wirklich nicht so einfach.

Es gibt diese Stereotypen vom Orient: eng, verwinkelt, alt, ein bisschen schmuddelig, voller Menschen – die Frauen verschleiert, die Männer wollen uns irgendwas andrehen – laut, bunt, wuselig, winzige Läden und Werkstätten – überhaupt Kunsthandwerk satt; dazwischen Moscheen samt megaphonverzerrter Muezzin-Stimme; nicht zu vergessen die geheimnisvollen Gerüche aus der Gewürzküche – ein exotischer Basar eben, geradewegs entsprungen aus 1001 Nacht.

Das Verrückte ist: Fès erfüllt diese Erwartungen fast eins zu eins! Was man aus Film und Büchern kennt, materialisiert sich hier. Die Medina von Fès gilt als die größte der Welt. Ihre Gesamtfläche umfasst rund 2,8 Quadratkilometer, was in etwa der Fläche von 400 Fußballfeldern entspricht. Seit 20 Jahren steht die Altstadt als Weltkulturerbe unter dem Schutz der UNESCO. Die älteste der vier marokkanischen Königsstädte gilt noch heute als geistiges, kulturelles und wissenschaftliches Zentrum des Landes – fast so, als hätte das französische Protektorat, dem die Stadt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterstand, nie existiert; als hätten die Franzosen nicht Rabat zur neuen Hauptstadt gemacht, als hätte es die Auseinandersetzungen, die erst mit der Unabhängigkeit Marokkos 1956 endeten, nie gegeben.

Andernorts in der arabischen Welt mag es üblich sein, dass die Leute lieber in komfortable Neubauten ziehen und ihren verwinkelten Altstadthäusern keine Träne nachweinen. Hier in Fès ist das anders. Das haben die Planer der UNESCO erlebt, als sie am grünen Tisch beschlossen, Familien aus der alten Medina umzusiedeln. Den Denkmalschützern waren die Häuser zu voll mit Menschen, sie wollten gern die ursprüngliche Belegung der historischen Gebäude wiederherstellen – oder das, was sie dafür hielten. Sie dachten dabei an die Bausubstanz, alles sollte so geschichtstreu wie möglich sein. Aber die Bewohner fanden die Geschichte nicht so wichtig wie ihr eigenes Wohlergehen. Bis zum Lockdown, mehr als 30 Jahre nach der Erklärung der Stadt zum Weltkulturerbe waren kaum 100 Familien ausgezogen. Jetzt aber ist die Stadt deutlich stiller, denn für deutlich weniger Menschen ist die Medina jetzt Heimat und Lebensgrundlage.

Fès hat uns wieder aufgesogen, und wir genießen es vom ersten Augenblick an! Die zwei Jahre des Lockdowns haben hier mehr Wirkung gezeigt als in Marrakesch. Die Stadt wirkt deutlich ruhiger als wir sie in Erinnerung haben. Unsere Unterkunft erweist sich als ein Palast aus tausendundeiner Nacht – ein märchenhaftes Riad, eines der meist von Franzosen renovierten alten Herrschaftshäuser mit Innenhofgärten. Hinter unscheinbaren Mauern liegen ungeahnte Schätze verborgen, die in Staunen versetzen – bunte mit Mosaik geschmückte Böden und Stuckaturen an den Wänden, reich verzierte Fensterläden und vorgewölbte Haremsfenster, durch die die Frauen ungesehen das Treiben auf den Straßen beobachten konnten.

Nicht neu für uns sind die Guides, die in der Altstadt auf Kundenfang gehen. Sie kennen den kürzesten Weg, das günstigste Hotel, den besten Schmuckladen. Viele Geschäfte stehen auf ihrer Liste. Ob es sich dann wirklich um einen Geheimtipp oder um eine Touristenfalle handelt, ist häufig Glückssache. Meist zahlt der Tourist ein wenig drauf, wenn er in ihrer Begleitung einen Laden betritt. Doch der Job ist streng reguliert. Bis zu zwei Tage Gefängnis drohen Stadtführern, die ohne Lizenz erwischt werden. Die Maßnahme war Teil eines umfassenden Tourismusprogramms, mit dem König Mohammed VI. das Land für ausländische Besucher sicherer und attraktiver machen wollte. Wir haben unseren Guide schon zu Hause gebucht, in Fès wird ein Besuch dadurch deutlich entspannter.

Klingt also so, als sei in Fès alles in Ordnung? Ist es aber nicht – jedenfalls nicht für die Bewohner. Früher freuten sie sich zwar, dass so viele Besucher kamen, aber leben konnten sie davon immer schlechter. Die meisten Touristen gaben ihr Geld direkt im Hotel aus statt im Laden oder auf der Straße. Marokko steckt voller Highlights und die herkömmliche Rundreise – egal ob pauschal oder individuell – ist so konzipiert, dass möglichst viel Programm in möglichst wenige Tage gesteckt wird. Aber die Medina von Fès ist kein Produkt von der Stange, deshalb nehmen wir uns wenigstens einen ganzen Tag Zeit. Wir merken, dass der Tourismus gerade erst wieder anläuft, wir fühlen uns ein bisschen wie Pioniere, wie Neuentdecker nach der langen Zeit des Lockdowns. Fès scheint uns wirklich zu brauchen, dass sagt uns der Manager in unserem Riad unmissverständlich.

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