So ganz genau kann kein Wissenschaftler mehr feststellen, wie alt diese Europäische Eibe wirklich ist. Der größte Teil des Stammes, der einst einen Umfang von mehr als 17 Metern hatte, ist längst verottet. Was Wind und Wetter in fast 5000 Jahren nicht schafften, gelang im 18. Jahrhundert Souvenirjägern. Sie höhlten den Stamm immer mehr aus, Kinder machten darin Feuer und die Prozessionen zu Friedhof und Kirche führten durch den Stamm hindurch. Der Eibe ging es nicht mehr gut, ihre Lebensgeister sind aber selbst für Bäume ungewöhnlich. So überlebte sie auch diese Maltretierungen, genau so, wie sie es schon vor 4.500 Jahren tat, als ihre Brüder und Schwestern nach etwa 500 Jahren Wachstum abstarben – ein typischer Zyklus für Europäische Eiben. Diese Eibe aber trieb weiter aus, ihr nächster Frühling begann, weitere würden folgen. Die Bronzezeit würde in etwa 1000 Jahren in Vorderasien anbrechen. Hier in Schottland würde es bis dahin noch weitere eintausend Jahre dauern. In solchen Zeiträumen lebend sind wir alle für diesen Baum nur sehr kurze Episoden. Für die Kelten wurde es der Baum der Ewigkeit, da war die Eibe erst 2000 Jahre jung.

Weitere eintausend Jahre vergingen, als im Schatten der Eibe ein Junge gelebt haben soll, der später Präfekt des römischen Kaisers Tiberius in Judäa werden sollte. Seine Biografie ist sehr lückenhaft, für die Schotten scheint aber festzustehen, das jener Pontius Pilatus hier als Sohn eines römischen Offiziers und einer Piktin zur Welt gekommen ist. Zu dieser Zeit verlief die Grenze zwischen dem römischen Reich und Caledonia, wie die Römer diese Region nannten, viel südlicher. Wie kam der römische Offizier also hier her? Es soll vereinzelt römische Lager im Norden gegeben haben, vorstellbar wäre es also. Die Eibe könnte es uns vielleicht sagen, tut sie aber nicht. Vielleicht hat sie dieses kurze Flackern in ihrem Rhythmus längst vergessen.

Die letzten etwa 1.300 Jahre war sie Friedhofsbaum. Als das Christentum im 7. Jahrhundert hierher kam, baute man die Kirche direkt auf die Wurzeln des Baumes und begrub die Toten in ihrem Schatten. Inzwischen steht die Eibe als ältester europäischer Baum unter Schutz, die Liste der ältesten Friedhofsbäume auf der Welt – bis heute kannte ich diese Liste nicht – führt sie an. Und als ob allein ihr Alter nicht Wunder genug wäre, erstaunt sie erneut die Wissenschaft. Die letzten 500 Jahre trug der Baum braune Zapfen, wahrscheinlich auch davor, nur existieren darüber keine gesicherten Informationen. Diese braunen Zapfen sind ein untrügliches Zeichen ihres Geschlechtes: diese Eibe ist männlich. 2015 plötzlich wurden an einem Trieb drei rote Beeren entdeckt, rote Beeren, wie sie eine weibliche Eibe trägt. Der Grund, warum die Eibe ihr Geschlecht zu wechseln scheint, ist bisher nicht vollständig erforscht, man vermutet hormonelle Veränderungen.

Unabhängig davon, ob männlich oder weiblich, ob Pontius Pilatus hier geboren wurde oder nicht, ob der Baum 5.000 Jahre alt ist, oder vielleicht „nur“ 3.500, wie es in anderen Quellen heißt. Ein Verweilen unter diesem Baum, wenn auch nur kurz, kurz nicht in den Maßstäben der Eibe, sondern in unseren, macht demütig.

Jens

Er fotografiert und gelegentlich schreibt er auch.